Studie: Kulturelle Teilhabe in Berlin 2019
Kulturpolitische Relevanz des Themas „Kulturelle Teilhabe in Berlin“ und Ausgangssituation der vorliegenden Studie
Kulturelle Teilhabe ist seit vielen Jahren eines der zentralen Themen der deutschen Kulturpolitik im Allgemeinen und der Berliner im Besonderen. So wird ihm auch in der aktuellen Legislaturperiode in den Richtlinien der Regierungspolitik (RdR) des Berliner Senats für die 18. Wahlperiode ein besonders herausragender Stellenwert eingeräumt. Daraufhin hat die Senatsverwaltung für Kultur und Europa (SenKultEuropa) verstärkt öffentliche Mittel vergeben für die fundierte Beratung und Förderung vielfältiger bestehender und neu entstandener Kultur- und Freizeitangebote, Initiativen und Modellprojekte, die auf eine größere und breitere Kulturelle Teilhabe abzielen.
Eine zentrale Grundlage für die Entwicklung jedweder Kultureller Teilhabe-Strategien von Kultureinrichtungen sowie von Kulturpolitik und ‑verwaltung sind vertiefte Kenntnisse über (potenzielle) Besucher*innen von Kulturangeboten. Die Berliner Kulturpolitik verpflichtet sich in der aktuellen Legisaturperiode daher, die entsprechende Planungs- und Entscheidungsgrundlage durch den Ausbau der Datenlage zu Kultureller Teilhabe zu verbessern. Ziel dieser Maßnahme ist es, ein möglichst umfassendes Basiswissen zu generieren für die strategische Arbeit von Kulturpolitik und ‑verwaltung (Entwicklung von Teilhabe-Strategien, deren praktischer Umsetzung sowie Evaluation) sowie Kultur- und Freizeiteinrichtungen (v. a. Hinweise für die Entwicklung neuer Angebote, Vermittlungs-/Marketingstrategien und deren Erfolgsmessung). Mit dem Vorhaben, die Datenlage zur Kulturellen Teilhabe auszubauen, ist Berlin bundesweiter Vorreiter, denn insgesamt kann diese in Deutschland im Vergleich zu anderen westlichen Ländern noch deutlich verbessert werden.
Bereits 2018 und 2019 förderte die Senatsverwaltung für Kultur und Europa vor diesem Hintergrund auch das Forschungsprojekt „(Nicht-)Besucher*innen-Studie“. Mit der Konzeption und Umsetzung waren visitBerlin für die operative Ansiedlung des Projekts und das Institut für Museumsforschung (IfM) für die wissenschaftliche Begleitung betraut. Gesucht wurden Antworten auf die Fragen:
- Was ist der Status der kulturellen Teilhabe in Berlin?
- Wie kann eine chancengleiche kulturelle Teilhabe in Zukunft ermöglicht werden? Inwieweit werden speziell Kultur- und Freizeitangebote von Berliner*innen besucht?
- Welche Gründe gibt es für (Nicht-)Besuche?
Die „(Nicht-)Besucher*innen-Studie“ fokussierte sich für die Beantwortung dieser Fragen zunächst auf die inhaltliche und methodische Weiterentwicklung des seit 2008 in Berlin laufenden Besucher*innenforschungssystems „KulturMonitoring“ (kurz KulMon). KulMon generiert kontinuierlich Daten über Besucher*innen zahlreicher in und außerhalb Berlins ansässiger Kultur- und Freizeiteinrichtungen.
Ein weiterer Arbeitsschwerpunkt der „(Nicht-)Besucher*innen-Studie“ lag in der Konzeption und Durchführung einer repräsentativen Untersuchung zur Kulturellen Teilhabe der Berliner Bevölkerung. Für diese Studie war es maßgeblich, nicht nur die passive Teilnahme an Kultur- und Freizeitangeboten in den Blick zu nehmen und somit die Frage, inwieweit Berliner*innen diese besuchen. Vielmehr war es elementar, auch zu untersuchen, inwieweit die Berliner*innen aktiv am kulturellen Leben teilhaben, beispielsweise indem sie auf nicht professioneller Ebene kulturelle Inhalte (mit)produzieren (bspw. Malen/Zeichnen), an Angeboten von Kultur- und Freizeiteinrichtungen aktiv beteiligt sind (bspw. Theaterworkshops) und/ oder (Mit-)Gestaltungsmöglichkeiten in Kultur- und Freizeitangeboten wahrnehmen (bspw. Ko-Kreation bei der Programmgestaltung).
Neben der Individualebene von Kultureller Teilhabe müssen die Rahmenbedingungen untersucht werden, die diese aktuell und in der Zukunft begünstigen oder verhindern. An einer chancengleichen Kulturellen Teilhabe und der Repräsentation der Berliner Stadtgesellschaft im Kulturbereich sind verschiedenste Handelnde auf der gesellschaftlichen Makro- und Mesoebene maßgeblich beteiligt. Entsprechend legte die „(Nicht-)Besucher*innen-Studie“ einen weiteren Arbeitsschwerpunkt auf begleitende Forschung zu Berliner Modellprojekten von Kultur- und Freizeiteinrichtungen für eine praktische Umsetzung von Kulturelle-Teilhabe-Strategien im Hinblick auf Organisation, Personal und Programm. Ebenfalls wurde in diesem Projekt ein Grundstein gelegt für die Reflexion der von Kulturverwaltungen und ‑politik vorgenommenen Fördermaßnahmen für Kulturelle Teilhabe.
Kulturelle Teilhabe bezieht sich hier auf ein weites Verständnis von Kultur und konzentriert sich nicht nur auf klassische Kulturangebote oder die sogenannte Hochkultur. Der Blick richtet sich also nicht nur auf beispielsweise Museen, Theater, klassische Konzerte, Opern oder Ballett. Je nach Forschungsschwerpunkt werden auch Angebote wie etwa Filmvorführungen/Kinos, Konzerte im Populärmusikbereich, Zoos, Musicals, Sportveranstaltungen, Clubs/Discos oder Bildungsangebote wie Bibliotheken und Volkshochschulen betrachtet. Zugleich ist das Verständnis von kultureller Teilhabe nicht auf den Bereich der öffentlich geförderten Kultur- und Freizeiteinrichtungen in Berlin beschränkt. Es werden auch die freie Szene, Soziokultur, privat finanzierte Angebote, Angebote außerhalb von Kultur- und Freizeiteinrichtungen (bspw. in Schulen, Vereinen, im Stadtraum) sowie Kulturbesuche auf Reisen oder im Ausland untersucht.
Seit Januar 2020 wird die Arbeit des Forschungsprojekts „(Nicht-)Besucher*innen-Studie“ über eine institutionelle Förderung des Instituts für Kulturelle Teilhabeforschung (IKTf) innerhalb der Stiftung für Kulturelle Weiterbildung und Kulturberatung (SKWK) fortgesetzt und inhaltlich ausgebaut. Mit der Aufnahme seiner Arbeit 2020 hat das IKTf unter anderem begonnen, die im Rahmen des Forschungsprojekts „(Nicht-)Besucher*innen-Studie“ durchgeführte repräsentative Umfrage zur Kulturellen Teilhabe der Berliner Bevölkerung im Jahr 2019 auszuwerten. Die Ergebnisse dieser unter dem Titel „Kulturelle Teilhabe in Berlin 2019“ realisierten Studie werden im vorliegenden Bericht präsentiert.
Fragestellung und Vorgehensweise
Die Studie liefert vertiefende Informationen über die Kulturelle Teilhabe der Berliner Bevölkerung. Es handelt sich um die erste groß angelegte Bevölkerungsbefragung in Berlin, die folgende Fragen beantwortet:
- Welche Berliner*innen besuchen Kultur- und Freizeitangebote, welche nicht?
- Wie zufrieden sind die Berliner*innen mit ihren Kultur- und Freizeitangeboten und welche Relevanz haben diese für sie?
- Was motiviert die Berliner*innen zu Besuchen von Kultur- und Freizeitangeboten und welche Gründe hinderten sie eventuell daran?
- Wie kann für mehr Berliner*innen eine chancengleiche Kulturelle Teilhabe ermöglicht werden, insbesondere für diejenigen, die in der Besucher*innenschaft von Kultur- und Freizeitangeboten bisher unterdurchschnittlich repräsentiert sind?
- Welche künstlerischen Hobbys üben die Berliner*innen aus und wie und in welchem Ausmaß bringen sie sich in die (Mit-)Gestaltung kultureller Aktivitäten und Angebote ein?
Die Grundgesamtheit der Umfrage stellen Personen mit Erstwohnsitz in Berlin dar. Für die Befragung wurden 13005 Berliner Adressen zufällig ausgewählt, die vom Einwohnermeldeamt zur Verfügung gestellt wurden. Die Befragung erfolgte schriftlich-postalisch, wobei zusätzlich auch die Möglichkeit angeboten wurde, online teilzunehmen. Der deutschsprachige Fragebogen wurde durch eine englische, türkische, russische und arabische Übersetzung ergänzt. Der Erhebungszeitraum erstreckte sich vom 25. Juni bis zum 31. Oktober 2019. Der bereinigte Rücklauf betrug 3402 Fragebögen, das entspricht einer Rücklaufquote von 27 Prozent.
Um an die bisherige Forschung zu Kultureller Teilhabe anzuknüpfen, werden die Erhebungsergebnisse hinsichtlich des Einflusses soziodemografischer Faktoren, wie formaler Bildung, Alter, Geschlecht und Einkommen, auf die Antworten der Befragten untersucht. In der Soziologie wird jedoch seit spätestens den 1980er Jahren auf die begrenzte Erklärungskraft ebensolcher soziodemografischer Faktoren
für soziales Verhalten verwiesen. Als ergänzender Erklärungsansatz wird die Betrachtung von sozialen Milieus oder Lebensstilen in der Bevölkerung vorgeschlagen, die auf Einstellungen, Werten, Lebenszielen und Alltagspraktiken der Menschen beruhen. Daher wurde dieser Denkansatz auch in der Forschungsliteratur rund um den Bereich Kulturmanagement bereits seit den 1980er Jahren empfohlen, um zu einem besseren Verständnis der Besucher*innen und Nicht-Besucher*innen von Kulturangeboten zu gelangen. Vor diesem Hintergrund analysiert die vorliegende Studie zum ersten Mal in der deutschsprachigen Forschung zu Kultureller Teilhabe das Kulturbesuchsverhalten verschiedener Lebensstile in der Berliner Bevölkerung in großem Stil. Zu diesem Zweck kommt hier die Lebensführungstypologie von Gunnar Otte zum Einsatz, ein wissenschaftlich validiertes Instrument aus dem Bereich der sozialstrukturellen Ungleichheitsforschung der Soziologie.
Informationen zu Lebensstilen sind für Kultur- und Freizeiteinrichtungen sowie für Kulturpolitik und ‑verwaltung in mehrerlei Hinsicht nützlich:
- Sie ermöglichen ganz generell ein tieferes Verständnis für die aktuelle Kulturelle Teilhabe in Berlin und deren Entwicklung im Zeitverlauf, als soziodemografische Merkmale es allein zu leisten vermögen.
- Ein Abgleich der Verteilung von Lebensstilen in der Bevölkerung mit deren Verteilung in der Besucher*innenschaft von Kultur- und Freizeiteinrichtungen gibt wertvolle Hinweise zu Bevölkerungsgruppen, die unter den Besucher*innen der einzelnen Angebote bisher unterdurchschnittlich repräsentiert sind. Denn die Daten, die für den Abgleich in Berlin nötig sind, werden ebenfalls in den KulMon-Befragungen erhoben.
- Für verschiedene Lebensstile können gezielte Kulturelle-Teilhabe-Strategien entwickelt werden, beispielsweise Kulturmarketing- und/oder Kulturvermittlungsmaßnahmen von Kultur- und Freizeiteinrichtungen.
- Die Lebensstile bieten eine Basis für die Entwicklung gemeinsamer Strategien der Kulturellen Teilhabe, beispielsweise innerhalb einer Sparte oder von mehreren Kultur- und Freizeiteinrichtungen im Zusammenspiel mit Kulturpolitik und ‑verwaltung.